3. Bericht Marlene Epp 07.03.2013
Erstellt von Toni
Sechs Monate im „incredible India“
Projekt – Ein Halbes Jahr Lehrerin
Morgenkreis – Anwesenheitskontrolle – zwei Unterrichtsstunden – Kaffeepause (für die Kinder Milch) – zwei weitere Unterrichtsstunden – Mittagsessen – Zähne putzen – Basteln/Lesen/Filmschauen/ Singen – Pause – Abschiedslied – Auf den Schulbus warten.
Mein ganz vertrauter Schulalltag. Obwohl eine Zeit voll Begeisterung und Enttäuschung, Streit und Harmonie – eben Hoch und Tiefs hinter mir liegt, habe ich das Gefühl, dass sich in den letzten drei Monaten im Projekt nicht viel verändert hat.
Insgesamt habe ich mich eingelebt.
Für die Kinder bin ich eine feste Bezugsperson. Ich weiß, wie sie ticken, was sie brauchen und mögen, was man vermeiden sollte, kenne ihren Lernstand und schaffe es meistens sie zu motivieren. Ich kenne die typischen Verhaltensweisen jedes Einzelnen und weiß mit ihnen umzugehen. Als ich das erste Mal so richtig stolz auf sie war, während sie bei der Weihnachtsfeier auf der Bühne standen, habe ich gemerkt, wie sehr sie mir ans Herz gewachsen sind.
Alle Mitarbeiter kenne ich jetzt gut. Ich bin ein fester Teil des Teams und übernehme im selben Rahmen Verantwortung, wie meine beiden indischen Kolleginnen. Damit meine ich nicht nur Zähneputzen beaufsichtigen und Kaffee kochen, sondern auch, dass Cadda und ich es waren, die mit den Kindern ein Lied für unsere Weihnachtsfeier einstudiert haben, obwohl alle Lehrer angehalten waren, einen Programmpunkt mit den Kindern auf die Beine zu Stellen. Und auch die ein oder andere kleine Innovation des letzten halben Jahres in unserer Schule beruht auf meinen Ideen. Zum Beispiel haben wir eine Glocke gekauft, die am Ende der Pause geläutet wird – seit dem muss man nicht mehr jedem Kind einzeln sagen, dass die Pause vorbei ist. Ganz im Gegenteil: Ertönt die Glocke wird zackig das Spielzeug weggepackt und zum Klassenraum gelaufen. Sogar das Leuten der Glocke übernehmen die Kinder manchmal selbst.
Solche Sachen sind meine kleinen Erfolge.
Es gibt aber auch immer wieder Unstimmigkeiten oder Probleme.
Ein passendes Beispiel hierzu stammt von vorletztem Freitag. Unsere Sekretären Hema hat uns zur Seite genommen, um uns zu erklären, dass wir uns in Zukunft kein zweites Stück mehr nehmen dürfen, wenn unser Chef mal wieder Kuchen für alle gebacken hat. Es entspräche nicht der indischen Kultur und Hema werde in Zukunft fair aufteilen. An sich kein Problem, aber es hat Cadda und mich doch ein wenig irritiert. Denn erstens, war es ihr total wichtig den Mitarbeiter nicht beim Namen zu nennen, welcher sich beschwert hat (außer mir und Cadda bleiben nur drei), zweitens haben wir den Kuchen keineswegs aufgegessen, sondern es war noch über die Hälfte übrig und drittens haben wir uns auf Aufforderung von unserem Chef, der den Kuchen gebacken hat, ein zweites Stück genommen! Naja, so sind sie oft, die kleinen Kulturschocks des Alltags, die es auch nach sechs Monaten immer noch gibt.
Gäbe es nur solche kleinen Unstimmigkeiten könnte ich sagen, dass ich mich richtig wohl an der Beautiful Gate Special School fühle. Ich war bereits soweit Hemas Worten glauben zu schenken, wir seien eine Familie und ich könne (und solle) mit jedem Problem oder jeder Irritation zu ihr kommen, ich sei für sie wie eine Schwester. Aber seit einem Streit letzte Woche, der mich zwischenmenschlich zutiefst erschüttert hat, musste ich feststellen, dass dem nicht so ist. Der kulturelle Unterschied scheint offenbar zu groß. Als ich im Streit begann zu weinen, für mich ein Zeichen meiner Hilflosigkeit, wurde ich für mein unverschämtes Verhalten umso mehr beschimpft. So realisierte ich, dass mein Arbeitsplatz ist kein Ort ist, an dem ich meine Gefühle zeigen oder mitteilen kann. Was mir sehr schwer fällt, da ich ein Mensch bin, der Alles gibt und mich dadurch emotional sehr involviere.
Ich habe für mich den Kompromiss gefunden, mich mehr darauf zu besinnen meine Arbeit für meine wundervollen Schulkinder zu machen, mich aber insgesamt mehr zurückhalte, um mich in weniger Abhängigkeit meiner Vorgesetzten zu begeben. Das ist also mein Vorsatz für das nächste halbe Jahr.
Unsere Kontaktperson, Sunitha, die gleichzeitig unsere Chefin ist, ist für mich keine wirkliche Bezugsperson, aber sie fungiert bei Streitigkeiten als Mentor. Kleinere Probleme klären wir im Plenum, während der Mitarbeitertreffen, was ich sehr gut finde. Beim letzten Streit, der nicht alle Mitarbeiter betraf, hat sie mir die Chance gegeben sich ihr in einem Einzelgespräch zu erklären. Das hat mir viel bedeutet und die Situation ausreichend gelöst.
So kommt es, dass es mir alles in allem gut geht im Projekt. Es bleibt jedoch das Gefühl charakterlich nicht wirklich hinein zu passen und auch der Gedanke, dass ich lieber mit Kindern ohne Behinderung gearbeitet hätte, taucht immer noch ab und an auf.
Die Gastfamilie – meine zweite Mutter und indische Schwester
Nach wie vor ist es mit meiner Gastfamilie wundervoll harmonisch. Zumindest zwischen uns Freiwilligen und Aishu & Grirja. Ich hab die beiden sehr gern und auch mein Kannada ist mittlerweile gut genug, um auch ohne Aishu ein wenig mit Girija zu plaudern.
Leider hat sich jedoch die Situation mit meinem Gastvater verschärft. Es gibt keine Probleme zwischen uns Freiwilligen und ihm, wir ignorieren uns eher gegenseitig, aber innerhalb der Familie herrscht immer mehr Disharmonie.
Aishu erzählt uns offen, dass er wieder da war, seine Frau geschlagen, oder versuch hat ihr zu verbieten ohne seine Erlaubnis aus dem Haus zu gehen. Und ich bin auch selbst schon zweimal früh morgens aufgewacht, weil oben laut gestritten wurde. Er hat offen zugegeben, dass er nur noch vorbei kommt, wenn er einen Schlaf-platz in Mysore benötigt und wegen seiner Tochter. Dass diese ihm wichtig ist, zeigt er jedoch in keinster Weise. Nach wie vor weigert er sich einen Teil ihrer Schul-gebühren zu bezahlen und auch emotional nimmt er nicht an ihrem Leben teil. Das ist nicht nur meine Meinung, sondern entspricht auch der Wahrnehmung von Cadda, Girija und Aishu.
Mich macht es traurig, dass der Vater sich so verhält und es keinerlei Liebe und Zusammenhalt zwischen ihm und seiner Frau & Tochter gibt. Zwar halten Aishu und Girija zusammen und auch Girijas Verwandte kamen schon, um sie vor Ashok zu verteidigen, als er übergriffig wurde, aber den Vater rauszuschmeißen oder sich gar von ihm zu trennen kommt nicht in Frage bzw. funktioniert nicht. Lediglich eine Beschwerde wegen häuslicher Gewalt wurde bei der Polizei eingereicht, sodass sie ernst genommen werden, falls sie tatsächlich einmal deren Hilfe benötigen.
Manchmal fühle ich mir sehr hilflos. Ich kann nichts an der Situation ändern. Aber vielleicht reicht es ja bereits da zu sein, zuzuhören und aufzumuntern.
Bezüglich meiner Wohnsituation hat sich allerdings einiges verändert. In meinen ersten Fünf Monaten waren wir eine eng zusammengeschweißte Freiwilligencrew hier im Stadtteil J.P. Nagar. Mara, Celine & Sangeetha von gegenüber und Meri, Cadda und Ich. Wir habe oft am Wochenende zusammen gefrühstückt, Abends zusammen gekocht oder einfach nur zusammengesessen und gespielt oder gequatscht. Vor allem, da wir maximal eine Stunde Besuch von außerhalb haben dürfen, wurden unsere Nachbarn zum Ausgleich. Nun sind Mara und Celine seit Dezember wieder zurück in Deutschland und auch Meri und Sangeetha machten sich vor zwei Woche auf den Weg nach Finnland und Ecuador.
Zurück blieb ein emotionales Loch, sowie leere Schränke und Berge von dagelassenen Klamotten. Aber die Veränderung geht weiter. Seit neustem haben wir drei neue Freiwilligennachbarn und eine Freundin, die mich besucht, ist für zwei Monate hier eingezogen.
Indische Freunde habe ich leider keine gefunden bisher. Ich vermute, es liegt daran, dass es hier eine ganz andere Freundschaftskultur gibt, als in Deutschland. Denn auch meine Gastschwester hat sich, seit ich hier bin, kein einziges Mal mit einer Freundin oder einem Freund getroffen!
Die Freizeit – Die Zeit de Besuchs hat begonnen
Der Kannadaunterricht ist vorbei, aber meine Nachmittage füllen sich immernoch mit Yoga, ein wenig Bhagavad Gita Philosophie Unterricht und Tabla Stunden. Es tut mir gut, zu sehen, dass ich (vor allem beim Tabla spielen) Fortschritte mache. Seit Anfang Januar besitze ich sogar mein eigenes Instrument. Dennoch hab ich mir für das kommende halbe Jahr vorgenommen regelmäßiger zu üben – ein Vorsatz, den wohl jeder kennt, der ein Instrument lernt.
Die Wochenenden sind weiterhin dann und wann mit Kurzreisen gefüllt, aber die Dichte hat abgenommen. Irgendwie genieße ich es, am Wochenende öfter zuhause zu bleiben.
Eine sehr große Neuerung gibt es jedoch: Meinen Besuchermarathon!
Von Dezember bis Januar hat mich mein Freund Jan fünf Wochen besucht, zwei Tage vor seinem Heimflug kam meine Mama, die insgesamt zwei Monate in Indien bleibt. Sie war drei Wochen in ysore und machte sich dann auf, selbstständig zu reisen. Dafür kam meine Freundin Lena, die ebenfalls zwei Monate bleibt und sogar bei uns wohnt, was mich sehr freut. Und gegen Ende Februar wird auch mein Bruder Felix für vier Wochen nach Indien aufbrechen.
Klar, es ist auch Anstrengend so viel Besuch zu bekommen, es ist eine neue Art von Herausforderung und vor allem in der ersten Woche hat es sowohl bei Jan als auch bei meiner Mutter Streit gegeben. Aber ich finde es unglaublich schön, dass mich so viele Menschen besuchen kommen. Es gibt mir viel, mit Vertrauten Personen über die Eigenheiten Indiens zu philosophieren und es macht Spaß Ihnen mein indisches Zuhause vorzustellen. Besonders schön ist es, dass ich durch die Erfahrungen, Schwierigkeiten und Verwunderungen meines Besuches, an meine eigene Anfangszeit erinnert werde.
Indien – Jetzt glaube ich es zu kennen
„Das ist halt so in Indien, Mama!“ – wie oft hab ich mich das in den letzten Wochen sagen hören. Ein furchtbarer Satz. Es ist eine absolut verallgemeinernde Aussage in der ich zusätzlich auch noch ganz Indien in einen Topf werfe! Aber es spiegelt meine Erfahrungen wieder. Während ich Anfangs sehr viel Wert darauf gelegt habe alles offen zu betrachten, zu verstehen, anzunehmen und keinerlei Vorurteile zu haben, hat sich das mit der Zeit eher umgekehrt. Ich habe so oft ähnliche Erfahrungen gemacht, dass ich nun viele Dinge wieder voreingenommen betrachte. Aber sind auf Erfahrungen beruhende Meinungen wirklich Vorurteile? Mh.
Dennoch übe ich mich darin Neuem auch weiterhin offen zu begegnen.
Jedenfalls fällt es mir leicht, meinen Alltag hier zu meistern. Obst kaufen, mit den Rikshafahrern um den Preis feilschen, der Fahrradwerkstatt erklären, was an meinem Fahrrad kaputt ist, Tickets für Busse und Züge kaufen, zu Fuß voll befahrene Straßen überqueren, in einem Restaurant Essen bestellen, nach dem Weg zur nächsten Poststelle fragen – das sind alles Dinge, die ich am Anfang schwierig fand und die auch meinen deutschen Besuch herausfordern. Mir gehen sie ganz einfach und sogar völlig unbewusst von der Hand. Und das fühlt sich gut an.
Ich realisiere wie sehr Mysore schon mein zuhause geworden ist und wie sehr ich mich an alles hier gewöhnt habe. Es führt mir vor Augen, dass dieses vielfältige, bis vor sechs Monaten noch völlig fremdartige Land mir nun ganz vertraut scheint. Wer hätte gedacht, dass es so einfach ist, alles Bekannte hinter sich zu lassen und sich innerhalb nur eines halben Jahres ein neues Leben im „incredible India“ aufzubauen? Ich habe einfach ein Segelschiff gechartert und bin an neue Ufer gesegelt…
Eure Marlene